Skip to main content

Der Alltag der vergrößerten Familie

Vieles von dem, was Eltern anfangs Schwierigkeiten und schlaflose Nächte bereitete, hat sich im Laufe von Babys erstem Lebensjahr eingespielt: Das Kind schläft in der Regel nachts durch und macht meist tagsüber noch ein zwei Stunden Mittagsschlaf. Ein paar Monate später kann es alleine laufen und manches alleine essen. Sein Sprachverständnis wächst, es stellt Kontakte zu anderen Menschen ausserhalb der Familie her und äußert seine Wünsche auf unmissverständliche Weise. Nach einem Jahr ist der vormals hilflose Säugling aus dem Gröbsten heraus, was Eltern mit Freude und Erleichterung registrieren. Besonders Mütter fühlen sich im Umgang mit ihrem Kind sicherer, und Väter empfinden ihren Nachwuchs nicht mehr länger als fernes Wesen, dessen Bedürfnisse sich oftmals nur erahnen lassen. Das Kind ist groß geworden und mit ihm ist auch die Familie ein Stück gewachsen.

Doch der Alltag mit Babys fordert weiterhin Geduld und Kraft der Eltern, wenn auch auf einer anderen Ebene. Nicht die schlaflosen Nächte und Ungewissheit, was dem Baby denn fehlen könnte, zehren an den Nerven, sondern die Art der Aufmerksamkeit, die Babys nun von ihrer Familie fordern. Das Kind entdeckt sein Ich und seine Willenskraft. Kein „Nein“ kann es aufhalten, keine Wohnung ist sicher genug und alle Dinge müssen durch die kleinen Hände gehen. Eine der wichtigsten Phasen im Leben der Babys ist das so genannt Trotzalter. Die Bezeichnung Trotz weckt bei den meisten Erwachsenen allerdings Vorstellungen und Gefühle, die recht negativ sind. Die meisten Eltern denken dabei an plötzlich auftretende Wutattacken des Kindes, die scheinbar aus reiner Widerstandslust entstehen. Kleine Kostproben erhalten Eltern schon von ihrem eineinhalbjährigen Kind: Es tobt und schreit und wirft sich auf den Boden, wenn es den Gegenstand seiner Begierde nicht anfassen oder behalten darf. Danach kommen diese Wutausbrüche immer öfters vor und manchmal schon aus dem geringsten Anlass. Doch zwischen eineinhalb und drei Jahren wird nicht nur der Aufstand geprobt, in dieser Zeit sind Babys auch besonders verletzlich.

Aus Kindern, die gerne alleine spielten und sich gut selbst beschäftigen konnten, werden nun plötzlich „Rockzipfelhelden“ , die Angst vor dem Alleinsein haben. Und manche lebhaften, kontaktfreudigen Kinder können von heute auf morgen fremde Personen nur noch auf Mutters oder Vaters Arm ertragen. Auch die berühmte Angst vor der Dunkelheit entsteht in diesem Zeit Abschnitt. Familien geraten über die heftigen Reaktionsweisen ihrer Kinder manchmal heftig aus dem Gleichgewicht. Denn das Kleinkind will nur noch im elterlichen Bett schlafen, es reagiert nicht auf Verbote, sein Lieblingswort ist „Nein“!, es ist fordernd und will zugleich alles alleine machen. Nicht selten lassen sich Eltern jetzt auf Machtkämpfe ein oder streiten sich über wirksame Erziehungsmethoden.

Macht man sich deutlich, was ein Kleinkind in dieser Lebensphase alles lernt und wie dieses Gelernte sein inneres Gefüge durcheinander bringt, so werden diese, für viele Familien widersprüchliche Verhaltensweisen verständlich. Kinder entdecken in diesem Entwicklungsabschnitt:

  • ihr Ich-Gefühl
  • ihren Willen
  • ihre Selbstständigkeit

Das neu gewonnene Gefühl beherrscht ihr Tun und Handeln. Und wer handelt, macht bekanntlich auch einige Fehler. Deshalb spüren Kinder, dass sie ganz schnell an ihre Grenzen stoßen, weil nicht alles so klappt, wie sie es sich vorgestellt hatten. Ein typisches Beispiel dazu: Meine Tochter entdeckt eine Tube, deren Verschluss sie mühelos öffnet. Nach mehrmaligen misslungenen Versuchen den wieder auf die Tube zu schrauben, fliegt beides durch die Küche. Meine Tochter schreit und tobt und verweigert jede Hilfestellung meinerseits. Nach ein paar Minuten ist der Anfall jedoch vorbei und ich kann ihr in aller Ruhe die notwendigen Griffe zeigen. Je bewusster ein Kleinkind seine Umwelt erfährt, desto größer wird zunächst seine Unsicherheit sein. Und je größer die Unsicherheit, desto mehr Anlehnung sucht das Kind bei seinen Bezugspersonen. Deshalb brauchen Kinder bei ihrer Ich-Entwicklung – ein besserer Ausdruck für Trotzphase – viel Verständnis und Geduld. Eltern müssen dabei vor allem berücksichtigen, dass die kindliche Wut nichts mit Bösartigkeit zu tun hat, die Kinder wollen die Eltern dann auch nicht ärgern. Sie sind vielmehr über sich selbst zornig, weil Wunsch und Wirklichkeit so weit auseinander liegen. Außerdem müssen Kinder auch ihre Wut zeigen dürfen – es ist ein natürliches Gefühl, das Unbehagen, Missfallen und manchmal auch Hilflosigkeit ausdrückt. Doch was können Eltern tun, um ihrem Kind in der schwierigen Zeit zu helfen? Patentrezepte für Erziehung gibt es sicher nicht. Wichtig ist jedoch, dem Kind Hilfestellungen anzubieten, wenn es nicht mehr weiter weiß, oder mit ihm Kompromisse einzugehen, wenn es etwas verweigert. Für Babys wäre es nicht sinnvoll, wenn ihnen die Eltern alle Schwierigkeiten aus dem Weg räumen, um bloß jedes Geschrei zu vermeiden. Denn Kinder und besonders Babys brauchen auch Misserfolge, um lernen zu können.

Lernende Kinder

Ein Kleinkind lernt in seinem Alltag viele verschiedene Dinge – dabei muss es oft genug mit Misserfolgen umgehen

Und Aussagen wie „Dann mach doch dein Zeug allein!“ führen ebenfalls nicht zum gewünschten Erfolg, denn das Kind fühlt sich dann tatsächlich allein gelassen. Ihm hilft in diesen schwierigen Situationen eher, wenn Sie es so akzeptieren, wie es ist, und ihm das Gefühl geben, dass sie immer da sind, wenn es Hilfe braucht.

Erziehung und Familie

Wenn sich das Leben mit Kind einigermaßen eingespielt hat, entstehen aber oft Konflikte, die die Partnerschaft von Mann und Frau betreffen. Denn spätestens nach einem Jahr wird vielen Eltern so richtig bewusst, dass sich auch innerhalb ihrer Beziehung einiges verändert hat: Da wechselt nicht nur einfach der Tagesablauf, weil eine Person mehr da ist – sondern das ganze Leben hat sich gewandelt. Persönliche Freiheiten müssen für die Familie aufgegeben werden, viele Frauen geben zumindest vorübergehend ihren Beruf auf, das Geld muss nun für drei ausreichen, gemeinsame Unternehmungen der Partner finden so gut wie nicht mehr statt und die Sexualität tritt weit gehend in den Hintergrund. Viele Mütter fühlen sich zudem von ihren Männern im Stich gelassen, weil sie immer noch die Hauptlast der Babypflege, Kindererziehung und Haushaltsführung tragen müssen. Und einige Väter wenden sich mehr als früher ihrem Beruf zu, weil sie mit der veränderten Situation nicht zurecht kommen: Sie erleben ihre Frau als dauernd unzufrieden, nörgelnd und nur mit dem Kind beschäftigt.

All diese Gründe können dazu führen, dass Paare in eine Krise geraten, die nicht selten in einer Trennung endet. In einer Krise liegt aber auch immer die Chance, noch fester als vorher zusammenzuwachsen. „Paare sollten durchhalten und ihre Beziehungsprobleme in allen Höhen und Tiefen miteinander durchleben“ – So der Rat des Elternberaters und Buchautors Hermann Bullinger. Und was viele Paare oftmals übersehen, ist, dass Ehekrisen oder Konflikte in der Partnerschaft meist schon in der Zeit vor der Geburt des Kindes vorhanden waren. Das Kind verstärkt nur die Grundstimmung, die in einer Zweierbeziehung herrscht(e).

Mutter und Kind

Ein Kind verändert zwar die Partnerschaft, doch meist verstärkt sich nur die vorhandene Grundstimmung

Natürlich ist der Alltag einer Familie für jede auch noch so gute Ehe oder Partnerschaft eine Belastungsprobe. Und das nicht nur, weil die Eltern jetzt weniger Zeit füreinander haben oder persönliches aufgegeben werden muss – auch scheinbar vorher nicht gekannte Wesensmerkmale und Verhaltensweisen der beiden Erwachsenen treten plötzlich offen zutage. Oder bestimmte Charakterzüge am Partner werden plötzlich in einem ganz anderen Licht gesehen.

So nehmen die Meinungsverschiedenheiten häufig noch an Schärfe zu, wenn das Kind diese unterschiedlichen Auffassungen für seine Zwecke nutzbar macht. Spätestens jetzt müssen sich Eltern zusammenraufen, um über ihre unterschiedlichen Auffassungen von Erziehung zu sprechen. Oftmals verbergen sich hinter den Streitereien um Kinder und die Erziehung aber ganz andere, nämlich persönliche Konflikte, die Mann und Frau miteinander haben. Ein Gespräch in liebevoller, angenehmer Atmosphäre kann Gefühle, Ängste und Sorgen zutage bringen, die beiden Partnern im täglichen Umgang miteinander gar nicht aufgefallen waren. Zwar neigen Erwachsene dazu, sich bei Konflikten eher aus dem Weg als auf einander zuzugehen. Manchmal hilft aber ein „Gewitter“, die Familienatmosphäre wieder zu reinigen. Denn es ist besser, einen Streit, eine Meinungsverschiedenheit offen auszutragen als immer alles herunterzuschlucken. Dass das nicht immer in wohl formulierten Worten und mit höflicher, leiser Stimme geschieht, ist verständlich. Trotzdem sollten die Streitgespräche nicht nur aus Vorwürfen und gegenseitigen Anklagen bestehen, denn dadurch wird meist keine Verhaltensänderung oder Einsicht herbeigeführt. Was hilft, sind klare und unmissverständliche Aussagen über die jeweiligen Probleme, die man mit dem Partner hat und über die Gefühle, die einem selbst zu schaffen machen. Auch wenn dieses klärende Gespräch nicht gleich nach dem großen Knall stattfinden kann – ein oder zwei Tage später ist noch genügend Zeit, um über all das zu reden, was einem am Herzen liegt und was den Alltag so schwierig macht. Was sich ebenfalls als hilfreich erwiesen hat, ist ein Rückblick auf die eigene Kindheit, auf das innere Kind. Denn wer Kinder hat, wird selbst wieder zum Kind – so die Ansicht vieler Psychologen. Sie gehen davon aus, dass längst verschüttete Gefühle wieder erwachen, sobald Frauen Mütter und Männer Väter geworden sind: Empfindungen und Eindrücke der eigenen Kindheit werden lebendig und beeinflussen das Verhalten. Dazu die Psychologin Helga Kreikenbaum: „In jedem Menschen steckt noch das Kind, das er mal war, und auch das Kind, das er nicht sein durfte. Es hat unseren Charakter geschaffen durch grundlegende Erfahrungen, die unsere Weltsicht und unser Selbstbild aufbauen.“ Deshalb können Gespräche über die neue Lebenssituation und das innere Erleben dazu beitragen, bestimmte Verhaltensweisen des Partners oder der Partnerin besser zu verstehen. Auch sollten Paare nicht davor zurückschrecken, Hilfe von außen in Anspruch zu nehmen, wenn sie selbst mit ihrer Situation nicht mehr zurecht kommen. Es gibt zahlreiche Beratungsstellen, Selbsthilfegruppen oder Familientherapeuten, die professionelle Hilfe anbieten, wenn die Familie in eine Gefühlskrise gerät.

Als Familie zusammenzuleben bedeutet daher auch, dass sich die Partner ständig neu organisieren und arrangieren müssen. Nur so können viele Alltagsprobleme der Familie gelöst werden – denn nicht das Baby entscheidet über das Schicksal einer Ehe, Familie oder Partnerschaft, sondern die Partner selbst sind dafür verantwortlich.

Mehrgenerationen Familie

Vielen Elternpaaren hilft ein Rückblick auf die eigene Kindheit, eine gemeinsame Linie für den Alltag zu finden